Lobbying muss nicht zwingend eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Es kann legitim sein, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Dazu gehört eine politische Anerkennung mit der Lobbyisten Teil des politischen Prozesses werden können. Voraussetzung dafür ist ein Lobbyistenregister und teilweise eine gesetzliche Neugestaltung des politischen Prozesses. Größtmögliche Transparenz muss ein wesentliches Kennzeichen dieser Neugestaltung sein.
Die jüngere Diskussion über Lobbying oder Lobbyismus führt in Richtung Lobbygesetz. Im Rahmen eine solchen Gesetzes soll es ein verpflichtendes Lobbyistenregister geben. Die Grundlage dafür ist eine präzise Definition von Lobbying und diese wiederum führt im Kern auf die Frage, wer legitimiert ist, sich am politischen Prozess zu beteiligen. Anders formuliert: wer ist berechtigt, an politischen Entscheidungen mitzuwirken, an die sich in einer Demokratie alle halten (müssen)?
Wer ist am Prozess der politischen Willensbildung beteiligt?
Wer sich am politischen Prozess beteiligt, der hat auch Einfluss auf politische Entscheidungen. Am politischen Prozess sind vor allem die Parteien beteiligt. Als Organisationen sind sie darauf ausgerichtet, den politischen Prozess zu gestalten. Dies bedeutet konkret: sie versuchen festzulegen, welche Themen wichtig sind und wie diese dann politisch bearbeitet werden. Manchmal geht es auch darum, Entscheidungen bzw. Regulierungen zu verhindern oder hinauszuzögern.
In einer pluralistischen Gesellschaft versuchen auch die Interessengruppen politische Entscheidungen zu beeinflussen. Die Verbände sind die dazu passenden Organisationsformen. In den letzten Jahren sind weitere ‒ tendenziell hoch professionelle ‒ Organisationen dazu gekommen: Anwaltsfirmen, Public Affairs-Agenturen, Think Tanks, Unternehmensrepräsentanzen, NGOs. Nicht zu vergessen sind die unterschiedlichen Formen der Politikberatung (Beiräte, Kommissionen, Gutachter), die bei politischen Entscheidungen (wissenschaftlichen) Sachverstand beisteuern.
Wir haben also eine Reihe von Akteuren, die immer schon am politischen Prozess beteiligt sind. Es sind eben nicht nur die Parteien. Diese wären für sich alleine kaum in der Lage, die Interessen der komplexen Gesellschaft in der politischen Arena zu artikulieren. Wir sind kein Parteienstaat und die Parteien haben auch kein Monopol auf die politische Willensbildung - auch wenn sie im Grundgesetz genannt werden.
Warum ist Legitimität für Lobbying wichtig?
Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass eine Vielzahl von Akteuren sich am politischen Prozess mit dem Ziel beteiligen, das Ergebnis möglich in ihrem Sinne zu beeinflussen. Abgesehen von den Parteien sind die anderen Gruppen wenig bis gar nicht legitimiert, den politischen Prozess zu beeinflussen. Die Kritik am Lobbyismus entzündet sich gerade an der nicht vorhandenen Legitimation dieser Gruppen. Denn Lobbying findet in einer Demokratie statt und dort ist das Volk der Souverän, von dem die politische Willensbildung ausgeht. Legitimiert ist eine politische Entscheidung nur, wenn sie auf den politischen Willen des Souveräns, d.h. auf das Volk zurückgeführt werden kann. Wenn sich zeigt, dass Entscheidungen von Interessengruppen geprägt werden, dann sind diese nicht mehr legitim, d.h. sie sind auf eine Weise zustande gekommen, die nicht durch die Regeln der Demokratie gedeckt sind.
Spätestens hier wird es kompliziert: Sind die Interessengruppen nicht Teil des (Staats)Volkes? Das Nachdenken über die Legitimität von Lobbying findet sich hier an einem Scheideweg: ein Weg führt in die Argumentationskaskaden des Verfassungsrechts und wird von den Juristen beherrscht. Ein anderer Argumentationsweg führt in die Politik- und Sozialwissenschaft. Er orientiert sich eher an den realen Verhältnissen und nicht allein an den Normen der Verfassung.
Was sagen die Juristen ‒ was sagt das Grundgesetz?
Wenn wir den politischen Prozess in den Blick nehmen, dann sollen wir auch einen Blick in die Verfassung, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, werfen.
Im Grundgesetz steht in Artikel 20: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Und in Artikel 21 heißt es zu den Parteien: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Deutlich ist, dass keine weiteren Akteure genannt werden, die bei der politischen Willensbildung des Volkes „mitwirken“.
Die Verfassungsjuristen gehen davon aus, dass das Volk Träger der Staatsgewalt ist und ‒ wenn diese von der Regierung oder dem Parlament ausgeübt wird ‒ sie immer wieder auf das Volk zurückgeführt werden muss. D.h. es muss eine starke Verbindung da sein: Ernst-Wolfgang Böckeförde spricht daher mit Bezug auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgericht von einer „Legitimationskette“. Diese darf nicht reißen oder unterbrochen werden. Eine Entscheidung ist nur dann legitim, wenn sie auf das Volk zurückgeführt werden kann. Für den Politikprozess ist nun entscheidend: nur der darf sich daran beteiligen, der vom Volk legitimiert ist.
Gehören nun Interessengruppen zum (Staats)Volk?
Im strengen verfassungsrechtlichen Sinne: nein! Das Volk ist nach Ernst-Wolfgang Böckenförde die „Personengesamtheit der Staatsangehörigen“ und näher gekennzeichnet durch das aktive und passive Wahlrecht sowie durch die Staatsangehörigkeit. Interessengruppen haben ‒ auch wenn sie sehr groß sind wie Gewerkschaften und Kirchen ‒ demokratisch nur einer „Schein-Legitimation“. Sie bleiben Interessengruppe, d.h. Teil, und haben keinen Bezug zur „Selbstbestimmung der Gesamtheit der Bürger“ und zur „Allgemeinheit der Bürger“ (Böckenförde, Handbuch des Staatsrecht, Bd. III, § 24, S. 449, 451). Das Volk als die Gesamtheit ist höherrangig und mehr als die Summe seiner Teile. Nach dieser Auslegung des Verfassungsrechts gehören Interessengruppen nicht zum Staatsvolk und dürfen auch nicht an der politischen Willensbildung beteiligt werden.
Wenn nun Interessengruppen nicht zum Staatsvolk gehören, existiert keine Legitimationskette von politischen Entscheidungen zu ihnen. Schärfer noch, sie besitzen keine demokratische Legitimation. Die Folge davon ist schwerwiegend: sie dürfen sich nicht am politischen Prozess beteiligen, Lobbying selbst ist nicht legitim, eine undemokratische und illegitime Form der Einflussnahme auf den politischen Prozess.
Welche anderen (juristischen ) Legitimationskonzepte gibt es noch?
Diese Auffassung von Böckenförde ist nicht die einzige verfassungsjuristische Lehrmeinung. Etwas anders argumentiert Andreas Voßkuhle, gegenwärtig Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er unterscheidet zwischen Staat und Gesellschaft und nicht - wie noch Böckenförde zwischen Staat und Volk. Voßkuhle geht von der „Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben“ mit Blick auf die sachverständige Beratung aus (Handbuch des Staatsrecht, Bad. III, § 43, S. 455). Voßkuhle lehnt die Mitwirkung von Sachverständigen nicht generell ab, sondern nennt eine Reihe von Bedingungen: sie muss a) auf einer gesetzlichen Regelung basieren, b) die ausgewählten Sachverständigen müssen qualifiziert sein; c) es muss eine amtliche Anerkennung, Akkreditierung oder Bestellung geben d) Transparenz und Publizität müssen gewährleistet sein, e) die Beratung bzw. ihre Ergebnisse müssen öffentlich sein, f) Vergütungen, Beteiligung Dritter müssen geregelt sein, g) es muss eine Gewährleistungsverantwortung des Staates geben. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, dann ist die sachverständige Beratung im Politikprozess gerechtfertigt, d.h. legitim.
Weitere (nichtjuristische) Legitimationskonzepte
Voßkuhle hat zu anderen Legitimitätskonzepten schon den Weg gewiesen. Denn er billigt der sachverständigen Beratung ‒ auch wenn es damit noch Probleme gibt ‒ die Möglichkeit der Legitimität zu. Dies heißt nichts weniger, als dass sachverständige Beratung einen legitimen Status im Politikprozess hat.
Ein Schritt weiter als die Juristen gehen politikwissenschaftliche Legitimationskonzepte. In dieser Perspektive wird danach gefragt, wann eine politische Ordnung legitim, d.h. anerkennungswürdig ist. Darauf gibt es mehrere Antworten: Eine politische Ordnung ist legitim, wenn sie a) Partizipation ermöglicht, b) Teilhabechancen eröffnet, c) Gleichheit befördert, d) Inklusion als Ziel setzt, e) Transparenz als zentrale Leitlinie ausgegeben hat, f) die eigenen Verfahren und Entscheidung überprüfbar und bestreitbar macht, g) Rechenschaftspflichtigkeit als Prinzip eingeführt hat und h) Verantwortlichkeit als wichtigen Wert begreift. Politische Entscheidungen sind dann legitim, wenn sie vor dem Hintergrund des verfügbaren Wissens getroffen werden. Expertise wird damit selbst zum Legitimitätsgrund. Das ist weit mehr als der juristische Begriff der demokratischen Legitimität bei dem politische Entscheidungen auf das Staatsvolk rückführbar sein müssen. Allerdings darf diese bei den neuen Legitimitätskonzepten auch nicht fehlen; sie allein reicht aber nicht mehr aus.
Welche Konsequenzen hat diese Einsicht?
Damit ist der Weg zu einer positiven Antwort auf die Frage nach der Legitimität von Lobbying gebahnt. Der erste Schritt ist die Erkenntnis, dass der politische Prozess komplex strukturiert ist und an ihm viele Akteure beteiligt sind. Die juristische Legitimitätsperspektive ‒ die Gegenüberstellung von Volk und Staat ‒ ist unterkomplex und modernen Demokratien nicht mehr angemessen. Der Ausgangspunkt der politischen Willensbildung ist nicht allein das homogene Volk, denn dann gäbe es nur Wahlen und Formen direkter Demokratie und sonst nicht weiter. Hinzu kommt als Basis die Gesellschaft. Und die Gesellschaft besteht aus Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich zusammengeschlossen haben, um ihre Interessen zu vertreten.
Eine realistische Konzeption des politischen Prozesses geht von beiden - vom Volk und von der Gesellschaft ‒ aus. Beide Dimensionen sind im politischen Prozess präsent.
In dieser Hinsicht kann man argumentieren, dass Lobbying legitim ist, wenn eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sind. Grundlage dafür ist die Erweiterung der Legitimität um folgende Komponenten: Partizipation, Teilhaben, Gleichheit, Inklusion, Transparenz, Rechenschaftspflichtigkeit, Bestreitbarkeit, Verantwortlichkeit und Expertise. Grundlage bleibt aber die demokratische Legitimität, d.h. eine Entscheidung muss auf das Volk als Träger der Staatsgewalt rückführbar sein. Diese allein genügt aber nicht mehr. Die anderen Komponenten müssen hinzukommen.
Welche Folgen hat die Registrierungspflicht für Lobbyisten?
Wenn sich nun Lobbyisten und Interessengruppen, die im politischen Prozess aktiv sind, registrieren lassen müssen, dann hat dies mehrere Bedeutungsebenen.
Zunächst bedeutet dies eine Domestizierung der Interessengruppen. Sie müssen sich an Auflagen halten und werden kontrolliert. Im Vergleich zur gegenwärtigen Lage der Interessengruppen ist dies eine Verschlechterung. Ein Verbändegesetz kam in den 1970er Jahren auch deshalb nicht zustande, weil die Gewerkschaften fürchteten, dass sie kontrolliert werden sollten. Unter der Hand war dies wenigstens die Absicht dieses Gesetzes.
Heute ist die Situation eine andere. Der politische Prozess muss besser strukturiert werden. Er muss vor allem transparenter werden. Hier kommt nun die zweite Bedeutungsebene einer Registrierungspflicht hinzu: wer sich registrieren lassen muss, der erlangt auch eine gesetzliche Anerkennung. Er ist legitimer Akteur im politischen Prozess. Unter der Hand gewinnen die neuen Lobbyakteure: sie sind nicht länger illegitime Einflussakteure.
Allerdings - und da kommt die dritte Bedeutungsebene hinzu ‒ gewinnen die neuen Lobbyakteure diesen legitimen Status nur, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Damit meine ich nicht einfach die Registrierung. Die Lobbyakteure gewinnen dieses legitimierten Status nur, wenn sie a) Expertise bereitstellen, b) das geforderte Maß an Transparenz einhalten, c) das eigene Handeln den Regeln für den politischen Prozess unterwerfen, d) die eigene Organisation transparent und regelkonform gestalten und e) das eigene Handeln und die eigenen Vorschläge zur öffentlichen Diskussion stellen (Bestreitbarkeit).
Es geht aber auch um die Legitimität des gesamten politischen Prozesses. Hierbei muss sichergestellt werden, dass auch schwächere Gruppen Zugang haben und Interessenpositionen im politischen Prozess nachvollziehbar sind. Hinzu kommt, dass die Beteiligung von Sachverständigen gesetzlich geregelt werden muss. Dies kann in Form einer Akkreditierung geschehen. Sachverständige und andere müssen auch ihre weiteren Interessenverbindungen transparent gestalten.
Insgesamt erbringt ein gesetzliche Regelung einen Gewinn für alle Akteure und eine notwendige Neugestaltung des politischen Prozesses.